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  Sonne
 

Sonne und Schatten



Es war ein warmer Tag am Anfang der Sommerferien als Marie gut gelaunt das Einfamilienhaus in Münster verließ. Sie wollte sich mit ihrer Freundin Julia in der Innenstadt treffen, um die letzten Kleinigkeiten einzukaufen, die sie auf ihrer Fahrradtour durch das Münsterland in das Ruhrgebiet brauchen würden.
Sie war noch nicht oft in andere Gebiete von Nordrhein-Westfalen gekommen, weil ihre Familie meistens ein wenig weiter verreiste und so freute sie sich ihre direkte Nachbarschaft kennen zu lernen.
Für ihr Fahrrad war in der Stadt schnell ein Plätzchen gefunden. In Münster fand man sowieso immer einen Platz für sein Fahrrad. Allerdings musste sie das letzte Stück zu Fuß hinter sich bringen, weil in der Fußgängerzone Fahrradverbot herrschte.
Marie mochte die Stadt sehr gerne. Es war ein historischer Kern, den man in dieser Form nicht überall finden konnte. Der Prinzipalmarkt mit den Giebelhäusern und Bogengängen war die älteste Einkaufstraße Münsters und bestand schon seit etwa 1280. Zwar wurden die meisten Häuser im Zweiten Weltkrieg zerstört, doch wurden sie in Anlehnung an der alten Form wieder aufgebaut. Der gotische Giebel des Rathauses, welcher in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstanden ist, und die Renaissance-Fassade des Stadtweinhauses wurden nur mit geringen Veränderungen rekonstruiert.
An der Lambertikirche, welche den nördlichen Abschluss des Prinzipalmarktes bildete, konnte Marie ihre Freundin schon warten sehen. Hoch über Julia, am Turm, hingen drei Käfige, die die Kirche erst zum bedeutendsten sakralen Bau der Westfälischen Spätgotik gemacht hatten. Denn wie auch schon der Prinzipalmarkt hatte die Lambertikirche eine weit zurück liegende Geschichte. Sie wurde zwar schon 1375 errichtet, doch gelangte erst durch die als Wiedertäufer bekannten Jan van Leiden, Bernd Krechting und Bernd Knipperdolling ihre Berühmtheit. Denn nach einer grausamen Folterung und Hinrichtung wurden sie jeweils in einen der im Dreieck angeordneten Käfige gesteckt und zur Schau gestellt.
Seither konnten nicht nur Marie und Julia, sondern alle Menschen, die im Dunkeln durch Münster liefen die sogenannten drei Irrlichter in den Käfigen brennen sehen, als Erscheinung von drei Seelen oder inneren Feuern, die keine Ruhe finden konnten.
Oft hatte Julia schon in der Straße gestanden und hatte dieses einmalige Flair auf sich einwirken lassen. Hatte sogar schon oft hoch über den Dächern einen der letzen Türmer Deutschlands in sein Horn blasen gehört.
Marie wusste es zwar noch nicht, doch auf ihrer Reise würde sie noch etwas anderes kennen lernen, was ebenfalls in die Geschichte eingehen würde und bei weitem nicht so schön war.
„Da bist du ja endlich!“, rief ihr Julia entgegen und umarmte sie überschwänglich.
„Musstest du lange warten?“
„Nein, du bist total pünktlich. Nur ich bin wieder mal ein wenig zu früh.“, gab sie zu und zog Marie mit sich in die ersten Geschäfte.
Die beiden schafften ihre Einkäufe in einer Rekordzeit, so dass sie schon bald gemeinsam durch die Stadt radelten und zu ihrem Abenteuer aufbrachen.
Während sie sich durch den Stadtverkehr kämpften, spürten sie die angenehme Wärme, die ihnen die Sonne spendete. Aber nicht überall war es so sonnig und angenehm. Es gab Orte um sie herum, wo niemals ein Sonnenstrahl hingelangt war und gelangen würde und wo sich trotzdem Menschen befinden konnten.
Hinter Münster fuhren sie durch Felder, Wälder und über kleine Landstraßen. Sowohl Marie als auch Julia vermochten nicht zu sagen wann sie sich das letzte Mal so wohl gefühlt hatten. Sie konnten die Natur nun riechen, sie schmecken, die Vögel hören. Ihre Augen wurden von satten Grüntönen beruhigt. Gelegentlich kamen sie über kleine Bäche, die durch die Hitze des Sommers nur noch wenig Wasser führten. Nichts schien die wunderschöne Natur zu stören, bis sie nach mehreren Stunden einen kleinen Wald hinter sich ließen.
Die beiden Mädchen hatten schon gemerkt, dass andere Städte nicht so fahrradfreundlich waren und konnten nun nachvollziehen, warum immer gesagt wurde, dass Münster eine Fahrradstadt sei.
Hinter dem Wald wurden sie diesmal nicht von einer ungestörten Landschaft erwartet, so wie sie meist im Münsterland vorzufinden war. Ohne, dass sie es gemerkt hatten, waren sie schon ins Ruhrgebiet gelangt und nun wuchs direkt vor ihnen eine Zeche in die Luft. Sie wirkte erschlagend und total fehl am Platz. Der Rauch aus den Schornsteinen schwebte meterweit in die Höhe. Räder drehten sich und Seile wurden Meter um Meter durch die Geräte gezogen.
Marie und Julia staunten nicht schlecht, da sie nun so nah am Geschehen waren.
Sie fühlten sich nicht mehr ganz so wohl, nachdem nun dieses große unnatürliche Gelände vor ihnen aufgetaucht war. Zwar war ansonsten alles noch genauso grün und ansprechend um die Zeche herum. Doch gegensätzlicher hätten die Natur und das Werk in diesem Moment nicht sein können. Vor allem für Menschen, die diesen Anblick nicht gewohnt waren.
Achselzuckend schwang sich Julia wieder auf ihren Drahtesel.
„Komm schon. Lass uns weiter fahren. Immerhin ist unsere Aussicht ja im Moment nicht ganz so toll.“, brachte sie es auf den Punkt und radelte los.
Marie ließ sich nicht zwei Mal auffordern und folgte ihr direkt.
Nachdenklich schwiegen sie sich einige Zeit an. Natürlich hatten sie bis jetzt wie alle anderen Menschen Bilder gesehen oder über den Streit der Subventionen gelesen, doch noch nie war ihnen so klar geworden wie störend etwas wirken konnte. Ja, es war vollkommen anders wie das Zentrum Münsters, in dem sie noch vor wenigen Stunden gewesen waren.
Mittlerweile dämmerte es und Marie und Julia beschlossen sich einen geeigneten Platz zu suchen, wo sie übernachten konnten. Da kam ihnen der Wald nur gelegen, den sie in der Ferne schon wieder erkennen konnten.
Erschöpft ließen sie schließlich ihre Räder in das Gras fallen und warfen sich gleich hinterher. Der Tag war sehr anstrengend gewesen und sie konnten jeden einzelnen Knochen fühlen. Und wenn sie daran dachten, dass sie das kleine Personenzelt noch aufschlagen mussten, murrten sie nur noch mehr.
Als sie das kleine Gitter entdeckten, hinter dem sie eine Höhle vermuteten, triumphierten sie schon, weil sie dachten, dass sie auch darin übernachten konnten. Doch in Wirklichkeit würde die Nacht dadurch nur noch länger werden.
„Wir sollten da nicht rein gehen, Julia. Das Schloss ist abgeschlossen, das wird wohl einen Grund haben.“, rief Marie und sah sich das Gitter skeptisch an, während ihre Freundin das Gestrüpp davor wegdrückte.
„Hier ist aber schon lange keiner mehr gewesen.“, stellte sie fest.
„Nur ein Grund mehr, dass wir da nicht rein gehen sollten.“
„Sei doch nicht immer so ein Angsthase!“, lachte Julia, nahm einen Stein und begann auf das eiserne Schloss einzuschlagen, was schon durch den Rost rötlich war.
Ängstlich kam Marie dazu und hörte das leise Knacken mit einer bösen Vorahnung, als das Schloss auseinander brach und sich die Tür knarrend öffnen ließ.
„Das war doch gar nicht so schwer!“, jubelte Julia und trat vorsichtig ins Ungewisse. Sie konnte nicht sehr weit sehen. Denn das Licht draußen war schon sperrlich geworden und leuchtete ihre neue Umgebung nur noch gering aus.
Eins war den beiden Mädchen aber sofort klar. Sie befanden sich in keiner Höhle, sondern in einem Gang, der immer weiter in die Tiefe zu führen schien.
„Julia, das gefällt mir nicht. Lass uns hier verschwinden.“, wiederholte Marie, doch stieß bei ihrer Freundin wieder nur auf taube Ohren. Denn diese war schon viel zu sehr vom Abenteuerdrang gepackt und tastete sich mit einem hervor gezauberten Feuerzeug weiter in die Dunkelheit hinein.
„Tue mir das nicht an.“, stöhnte Marie und folgte Julia nur ungern.
Sie waren noch nicht weit gekommen, da verengte sich der Weg so sehr, dass Julia sich auf allen vieren fortbewegen musste. Die Wände waren mit Stein ummauert und an dieser Stelle war die Decke schon gefährlich weit hinunter gesackt. Der Gefahr schienen sich aber beide nicht bewusst gewesen zu sein. Denn auch Marie erkannte dies nicht und folgte ihrer Freundin weiterhin.
Es war viel zu eng. Eng und stickig. Die modrige Luft stieg ihnen in die Nase. Platzangst breitete sich in ihrem Inneren aus. Hektisch trampelte Marie mit ihren Beinen. Der Weg wurde immer noch enger und sie befürchtete, dass sie nur wenige Zenitmeter weiter stecken bleiben würde. Sie vermisste jetzt schon die Weite, die sich ihnen über Tage bot. Im Moment befanden sie sich aber unter Tage und es gab nichts, was sie im Entferntesten an eine Weite, an Freiheit erinnerte.
Während sie so zappelte stieß sie mit ihren Turnschuhen immer wieder an die Decke. Das Rieseln des Sandes, der zwischen den Steinen wegrieselte, nahm sie in ihrer aufsteigenden Panik gar nicht wahr, so dass sie immer weiter gegen die Decke und die Wände schlug.
Plötzlich knarrte es gefährlich laut, so dass auch Marie aufmerksam wurde. Doch da war es schon zu spät. Die Decke kam mit einem gewaltigen Getöse hinab. Dreck und Staub wirbelte auf und drohte die beiden Mädchen zu ersticken.
Voller Panik schrien sie auf. Während Marie Julia von hinten schob, zogen sich beide Schürfwunden zu. Sie merkten es aber erst gar nicht, weil sie viel zu viel Angst hatten, dass sie vom niederfallenden Gestein erschlagen werden könnten.
Obwohl das Getöse schon längst wieder nachgelassen hatte, krabbelten sie weiter, bis sich der Gang wieder verbreiterte und sie wieder ohne Mühe wenigstens sitzen konnten.
„Ich habe doch gesagt, dass wir es sein lassen sollen!“, heulte Marie auf und sah in den engen Teil zurück, der etwa in der Mitte völlig verschüttet worden war.
„Na und? Es wäre nichts passiert, wenn du nicht andauernd gegen die Steine getreten hättest!“, schrie Julia zurück und sah ihrer Freundin sauer in das dreckige Gesicht. Es war so dreckig, dass nur noch ihre Augen leuchteten und der Teil, wo schließlich die Tränen der Verzweiflung drüber liefen.
Entschuldigend rutschte Julia daraufhin zu Marie hin und wischte ihr das Gesicht mit einem Taschentuch ein wenig sauber.
„Du hattest vollkommen Recht. Ich hätte auf dich hören sollen. Jetzt weine doch nicht. Hier gibt es bestimmt noch einen zweiten Ausweg!“, versuchte sie Marie aufzumuntern und klopfte ihr tröstend auf die Schulter.
Zwar war es Marie nicht wirklich ein Trost, doch was blieb ihr anderes übrig. Sie musste sich nun wohl oder übel zusammen reißen und nach einem anderen Ausgang suchen. Es war nämlich unmöglich aus dem zu kommen, der nun durch den Einsturz unpassierbar war.
In der Hoffnung, dass sie ihn bald finden würden, krabbelten sie los. Doch ihr Weg erschien nach einer Weile unendlich weit und er führte immer weiter in die Tiefe. Es wurde immer wärmer, ja unerträglich warm und die Luftfeuchtigkeit stieg auch immer weiter. Schließlich mussten sie sich sogar durch Wurzeln kämpfen, die durch die Mauer gewachsen kamen. Manchmal sahen sie kleine Treppen, die nach oben führten und als sie schließlich grade stehen konnten, mussten sie Balken und Schienen überqueren. Je tiefer sie kamen, desto erschöpfter wurden sie auch. Sie spürten wie ihnen schlecht und schwindelig wurde und kauerten sich schließlich an die Wand.
„Wenn ihr weiterhin nur geradeaus krabbelt, werdet ihr irgendwann ziemlich weit unter der Erde auf ein Sackgasse stoßen.“, ertönte plötzlich eine ruhige Männerstimme hinter ihnen, die laut in ihren Köpfen wiederhallte.
Überrascht drehten sie sich um und waren im festen Glauben, dass sie eine Halluzination gehört hatten. Doch tatsächlich sahen sie sich jemanden gegenüber, der dies gesagt hatte. Allerdings war es kein Mensch der dort stand, sondern ein Geist, der hell leuchtete und das Feuerzeug so um einiges überleuchtete. Sofort zweifelten die Mädchen wieder an ihrem Verstand.
„Was guckt ihr so? Noch nie einen Geist gesehen? Wie dumm von mir. Wahrscheinlich nicht.“, lachte der Geist und gluckste dabei.
Er hatte zwar das Aussehen von einem starken, erwachsenen Mann, doch hatte er keinerlei Farbe und war leicht durchsichtig. Seine Augen schienen traurig und verlassen. Seine farblose Kleidung war zerrissen und nicht mehr sehr ansprechend.
„Ich habe gesehen, dass euch das selbe Schicksal wiederfahren ist wie mir.“, sagte er nur knapp und sah seine Gäste auffordernd an.
„Was, ich meine, wer bist du?“, brachte Julia nur hervor.
„Ich bin Johannes.“
„Und?“, forderte Marie ihn auf weiter zu sprechen.
„Und was?“, stellte er sich dumm.
„Wieso bist du ein Geist?“
„Ich habe damals mit ein paar Männern in diesem Erbstollen gearbeitet, als auch wir verschüttet worden sind. In Erbstollen gibt es nur einen Ein- und Ausgang und deswegen wollten wir uns noch einen zweiten machen und es hat sogar funktioniert.“
„Und wieso bist du dann noch hier?“, fragte Marie vorsichtig.
„Ich habe es damals nicht mehr geschafft. Bin an Fieber gestorben und nun geistere ich schon seit mehr als 200 Jahren in diesem Stollen umher.“
„Weißt du denn wo der zweite Ausgang ist?“
„Ich habe ihn nie gefunden. Ich habe es wirklich versucht, denn ich werde erst meine Ruhe finden, wenn ich ihn gefunden habe. Dann werde ich nicht mehr dazu verdammt sein hier unten zu verharren.“
„Es muss schrecklich sein hier zu leben. Ich halte es jetzt nach wenigen Minuten schon nicht mehr aus.“, rief Julia voller Mitleid.
„Schrecklich ist gar kein Ausdruck. Es ist der reine Horror. Stelle dir vor du müsstest jetzt ewig unter Tage bleiben! Du siehst den Unterschied doch selber. Könnte es einen größeren Kontrast geben als den des Verbringens über und unter Tage? Hier gelangt kein Licht hin. Es ist eng, stickig, heiß, verwinkelt und immer gefährlich. Das Wasser steht in den Gängen, es ist matschig und modert. Das einzige, was mich an andere Menschen erinnert sind die Tafeln, die zwischendurch an den Wänden hängen und anzeigen wie weit es bis zur nächsten Rösche ist! Über Tage scheint stattdessen die Sonne, es gibt frische Luft, Abwechslung, andere Menschen. Man kann den Wind genießen wie er um einen herum weht. Du hörst Tiere, riechst Blumen, kannst die Welt einfach bestaunen und genießen. Das Land, das über uns liegt ist im Gegensatz zu dem, was unter dem Land liegt ein Paradies.“, hielt er eine kleine Rede.
Johannes hatte völlig Recht. Das Land steckte voller Kontraste, obwohl es alles so nah beieinander lag. Das hatten die beiden ja schon zwischen Münsters Innenstadt, ihrem Weg durchs Land bis zur Zeche hin erkannt. Der krönende Abschluss war nun aber in der Tat der Kontrast zwischen der Welt, die einen an der Sonne erwartete und dem, was unter Tage herrschte.
„Wir werden den Ausgang schon gemeinsam finden!“, munterten sie ihn auf.
„Dann lasst uns keine Zeit verlieren!“, rief er und schob seinen durchsichtigen Helm zurecht.
Johannes hatte ein breites Kreuz und seine mittellangen Haare fielen strähnig um sein kantiges Gesicht hinab. Marie und Julia konnten sich kaum vorstellen, dass er wirklich schon seit 200 Jahren tot war.
Mit Elan stürmte er los. Dabei berührte er den Boden kaum und kam schneller wie die beiden Mädchen voran. Diese taten alles dafür ihm möglichst schnell zu folgen. Denn wenn sie ihn verlieren würden, wären sie verloren gewesen. Niemals würden sie den Weg zurück finden.
Es gab nämlich einige Abzweigungen, bei denen sie immer anders abbogen.
Manchmal mussten sie durch kniehohe Pampe laufen, wodurch ihre Hosen vollkommen durchnässt wurden. Trotzdem gaben sie nicht auf und kämpften sich ihren Weg über Balken und über Schienen. Sie kamen an alten Wagen vorbei. Als die Mauer aufhörte, konnten sie die Kohleflöze sehen und die verschiedenen Erdschichten, die sich darum anordneten. Und das alles nur in dem unheimlichen Schein des Geistes. Johannes erzählte ihnen über den Weg wie die Männer damals schuften mussten, nur mit der eigenen Körperkraft und wie beschwerlich die Arbeit war. Hätte er das nicht erklärt, hätten sich die drei die ganze Zeit angeschwiegen.
Sie kamen an kleinen Treppen vorbei und an Schächten, die steil in die Lüfte führten.
„Wo vermutest du den Ausgang denn, Johannes?“
„Ich weiß es doch auch nicht. Nach der langen Zeit hatte ich es schon längst aufgegeben.“, gab er zu. „Habt ihr denn nicht eine Idee?“
Nachdenklich sah Marie in einen Schacht, der steil zur Erdoberfläche hinaufführte.
„Es wäre doch nur logisch, wenn sie dort oben begonnen hätten zu graben, weil sie dort schon einige Meter sparen konnten.“, erklärte sie.
„Dort oben habe ich auch noch nie nachgesehen! Immerhin sehe ich doch, dass dort oben alles dicht ist.“, erwiderte Johannes und kratzte sich am Kinn.
„Vielleicht wurde es aber zu späterer Zeit zugeschüttet, weil es zu gefährlich war.“, ließ sich Julia mitreißen.
„Es ist auf jeden Fall einen Versuch wert.“
Sofort griff Marie nach der Strickleiter, die von weit oben bis zu dem eigentlichen Erbstollen reichte und begann sich daran hoch zu angeln, obwohl das Material schon so alt war und somit auch brüchig hätte sein können. Sie wollte nur aus dieser Dunkelheit heraus. Alles was Johannes erzählt hatte, erlebte sie nun am eigenen Körper. Und mit einem Mal musste sie alle Bergarbeiter bewundern, die Tag ein Tag aus immer noch in diese dunkle Tiefe fuhren.
Die Strickleiter war keinesfalls brüchig und hielt Marie sehr gut, bis sie oben von der Decke gestoppt wurde. Wütend schlug sie dagegen und jaulte vor Schmerz auf.
Seltsamer Weise bröckelte aber verdächtig viel von der Decke ab.
„Johannes, was hat das zu bedeuten?“, rief sie hinab und lockte den Geist so zu sich hoch.
„Das ist auf jeden Fall nicht normal.“, gab er zurück und fummelte an seinem Gürtel herum, von wo er eine kleine Axt hervor zauberte und mit all seiner Kraft auf die Decke einschlug.
Die Steinteile, die absprangen, flogen ohne Probleme durch seinen massigen Körper hindurch.
Marie konnte das Funkeln in seinen Augen sehen und wusste, dass Johannes tatsächlich glaubte, dass sie etwas sehr vielversprechendes gefunden hatte.
Es kam allen drein wie eine Ewigkeit vor, während Johannes mittlerweile voller Ungeduld auf die Decke einschlug.
Schließlich stöhnte er auf. „Holz!“, rief er und lachte so laut wie er es noch nie gemacht hatte.
„Helfe mir mal!“, bat er Marie und stemmte sich gegen die Platte, die sich zwar nur schwer, aber immerhin langsam bewegen ließ.
Das erste Mal seit Jahrzehnten fand ein dünner Sonnenstrahl seinen Weg in den Stollen. Geblendet kniffen sie die Augen zusammen, während sie die Platte weiter schoben.
„Ihr habt den Ausgang gefunden! Ich kann es gar nicht glauben!“, jubelte Julia unter ihnen und sprang unruhig von einem Bein auf das andere.
Über der Holzplatte lag tatsächlich kein Gestein mehr. Sie konnten die Baumkronen sehen und die Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch die Baumkronen bahnten.
Als sich Marie vorsichtig rauszog, liefen ihr Tränen der Freude über die Wange. Julia folgte ihr lachend und warf sich erleichtert auf das Moos, was um sie herum war.
Erst dann kam Johannes aus seinem Jahrhundert langen Verließ. In seinen Augen flammte ein Feuer auf, sein übermütiges Lachen musste mit Sicherheit in ganz Nordrhein-Westfalen zu hören gewesen sein.
„Ich dachte, dass ich die Sonne nie wieder sehen würde! Und jetzt stehe ich hier und spüre die Sonnenstrahlen auf mir, kann die Natur noch ein Mal riechen und die prächtigen Farben genießen!“, rief er laut und schwirrte um die Bäume herum.
„Jetzt bin ich erlöst. Wie lange habe ich darauf gewartet.“, lachte er nur und sah sich seine Hand staunend an, die immer blasser wurde.
„Ich danke euch!“, sagte er, während sich seine Beine auflösten.
„Wir müssen dir danken, Johannes. Ohne dich hätten wir es auch niemals geschafft.“
„Wir waren ein tolles Team. Ich werde euch nie vergessen!“, rief er, als sich das letzte Bisschen von seinem Körper auflöste und die beiden Mädchen alleine zurückblieben. Diese stürmten so schnell es ging zu ihren Fahrrädern und fuhren sofort los.
Sie waren noch nie so froh gewesen die Sonne über Nordrhein-Westfalen aufgehen zu sehen.

© Nina B.

 
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